Torcello - vom Lagunensumpf zur Metropole
Die venezianische Lagune besteht aus zwei Teilen: Im Westen erstreckt sich die „Laguna viva“ von Chioggia über Venedig bis nach Murano. Mit den drei Durchlässen am Lido ist sie mit dem offenen Meer verbunden. Ebbe und Flut, überwiegend kleine Inseln und weite Wasserflächen dominieren diesen Lagunenteil.
Der kleinere östliche Abschnitt wird „Laguna morta“ genannt. Diese ist kaum mit dem Meer verbunden, der Wasserstand steigt nur, wenn die kleinen Zubringerflüsse vom Festland her Hochwasser führen. Die vielen kleinen Inseln sind getrennt durch mäandernde Flussläufe, große Schilf- und Sumpfflächen prägen die schwer zugängliche Landschaft. Ein Naturparadies, in das Menschen lange nur für Fischfang und Jagd eintraten.
Die Anfänge Torcellos
Die erste Besiedlungsspur ist eine römische Villa aus dem 1. Jh.v.Chr., deren Reste vor Kurzem auf Torcello gefunden wurden. Knapp 500 Jahre später zur Zeit der Völkerwanderung erwachte die Lagune aus ihrem Schlaf, als die Bewohner der küstennahen Städte vor den plündernden Horden auf die leichter zu verteidigenden Inseln flohen. Für die Dauer der Flucht entstanden Dörfer aus Schilf- und Holzhütten, jedoch kehrten die Flüchtlinge nach dem Abzug der Invasoren zum Wiederaufbau ihrer alten Siedlungen ans Festland zurück.
Eine neuerliche Flüchtlingswelle lösten im Jahre 452 Attilas Hunnen aus, als sie Venetien überrannten und die Hauptstädte Aquilea und Altinum verwüsteten. Der Legende nach entstand dabei der Name „Torcello“, weil die Bewohner Altinums durch das letzte offene Tor, die „Porta Torrecella“, auf die Insel flohen.
Vom Fischerdorf zur Handelsstadt
568 fielen die Langobarden in Venetien ein, und diese gedachten zu bleiben. Somit war den geflüchteten Inselbewohnern eine Rückkehr auf das Festland verwehrt. Mit der Flucht von Erzbischof Paulinus von Aquilea nach Torcello entstand eine neue, aus dem Meer gewachsene Provinz mit eigenem Bistum: See-Venetien. Und spätestens um 639 mit dem Bau der Kirche Santa Maria Assunta auf Torcello begann der Aufschwung der neuen Stadt.
Zum Schutz vor weiteren langobardischen Angriffen unterstellte sich die Stadt mit den umliegenden Inselsiedlungen dem oströmischen Imperium und wurde zumindest nominell vom byzantinischen Exarchen von Ravenna regiert. Dieser bestimmte 697 erstmals einen „Dux“ als Oberhaupt der Lagunensiedlungen. Jener Paoluccio Anafesto begründete als erster Doge den Beginn einer über tausendjährigen Geschichte.
Blütezeit Torcellos
Das 8. Jahrhundert war die Blütezeit Torcellos. Zahlreiche Paläste, 12 Pfarreien und 16 Klöster bildeten die Basis für eine der damals größten und reichsten Städte Europas, einer Metropole mit über 20.000 Einwohnern, mehr als zur gleichen Zeit in Paris lebten.
Als nördlichster Teil des byzantinischen Reiches war See-Venetien ein natürlicher Handelsknotenpunkt zwischen Orient und Okzident. Zwar konnte, von Salz und Fisch abgesehen, nur wenig exportiert werden, und es mangelte an Anbauflächen für Nahrungsmittel. Dafür erlangten die Inselbewohner bald eine Vorrangstellung im Fernhandel. Durch ihr Know-How im Schiffsbau und ihre Erfahrung in der Seefahrt beherrschten sie bald den Import exotischer Güter aus Konstantinopel und der aufstrebenden muslimischen Welt. Daraus entwickelte sich rasch wachsender Wohlstand und die Venetianer hatten schon damals die Gabe, sich zwischen den unterschiedlichen Interessen der Nachbarmächte größtmögliche Unabhängigkeit zu bewahren.
Verlust der Vorherrschaft in der Lagune
810 drohte wieder Gefahr: Die Franken unter Karl dem Großen fielen in Italien ein, sein Sohn Pippin schickte sich an, auch See-Venetien zu besetzen. Dessen Flotte eroberte die äußeren Inseln und der Legende nach flüchteten die Verteidiger von der Insel Malamocco ins Laguneninnere und liessen nur eine alte Frau zurück. Diese wurde von den Franken nach dem richtigen Weg befragt. “Sempre diritto“ war ihre Auskunft und schickte das Heer Pippins so direkt in die Schlammbänke der Lagune, wo es von den ortskundigen Kriegern besiegt wurde. Ein schönes Bonmot besagt, dass seither grundsätzlich Vorsicht angebracht ist, wenn Venezianer einem den Weg suchenden Fremden raten, einfach geradeaus zu gehen . . .
Trotz dieses Sieges endete ab dieser Zeit die Vorherrschaft Torcellos, denn nicht wenige Inselbewohner flohen vor den Franken auf das „Rivo alto“ (=Rialto) im Zentrum der Lagune, das mehr Platz als die Sumpflandschaft um Torcello bot und auch höher lag. Mit der Übersiedlung des Bischofsitzes im Jahr 827 auf die Insel Olivolo begann der Aufstieg der „Civitas Venetiae“. Und spätestens 828 mit dem Raub der Reliquien des Evangelisten Markus aus Alexandria und dem nachfolgenden Bau der Markuskirche sowie des Dogenpalastes musste Torcello seine Vorrangstellung im Inselreich abgeben.
Bis ins 12. Jahrhundert florierte Torcello im Schatten Venedigs, der prächtige Umbau von Santa Maria Assunta um 1006 und der Bau der benachbarten Kirche Santa Fosca ab 1120 zeugen vom Weiterblühen der Stadt.
Der Untergang Torcellos
Zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert versank die prächtige Stadt Stück um Stück im Nebel der Geschichte. Der Anstieg des Meeresspiegels, Überschwemmungen und zunehmende Versumpfung, daraus resultierende Malariaepidemien sowie der steile Aufstieg der benachbarten Serenissima ließen immer mehr Einwohner Torcellos nach Venedig übersiedeln. Dies nicht nur mit Sack und Pack, sondern auch mit ihren ganzen Bauwerken. Steinquader, Ziegel und Balken der Häuser und auch der Kirchen wurde mitgenommen, Baumaterial war wertvoll.
Wer heute nach Torcello reist, sucht vergebens nach der einstigen Metropole. Vielleicht eine Handvoll Menschen leben hier noch dauerhaft, Marschland, Sümpfe und Kanäle prägen die Insel. Nur im Zentrum stehen als Beweis einstiger Pracht die beiden Kirchen und zwei kleine Paläste aus dem 14. Jahrhundert, die als Museum bzw. zur Verwaltung dienen.
Basilica Santa Maria Assunta
Der älteste Sakralbau der Lagune wurde 639 im byzantinischen Stil erbaut und mehrfach erweitert. Die prächtigen Mosaike stehen jenen der Markuskirche in nichts nach, das Weltgerichtsmosaik an der Westwand gibt einen tiefen Einblick in die Glaubenswelt der Zeit der ersten Jahrtausendwende. In der Hauptapsis der dreischiffigen Kirche thront in der goldenen Kuppel Maria Teodoga, darunter die 12 Apostel. Die Marmorkanzel und das Lamm-Gottes-Mosaik stammen aus dem 7. Jahrhundert.
Vom Campanile hat man einen 360°-Ausblick auf Torcello, an klaren Tagen bis nach Venedig.
Santa Fosca
Der Grundriss dieser Kuppelkirche aus dem 11. Jahrhundert entspricht einem griechischen Kreuz. Der fast schmucklose byzantinische Bau besticht durch eine harmonische Raumwirkung, zarte Marmorsäulen und Kapitelle. Ein Arkadengang verbindet beide Kirchen.