Acqua Alta
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Venedig von jenem Element existenziell bedroht wird, dem es in der Vergangenheit Macht, Reichtum und Einfluss verdankte. Das Wasser steigt auf den Straßen und Plätzen immer höher, und das auch noch in kürzeren Abständen. Die Einwohner Venedigs haben sich an das „Acqua Alta“ gewöhnt. Wenn am Messpunkt Punta Salute der Wert über 1,10 Meter steigt und die Sirenen ertönen, werden Laufstege in den Hauptrouten aufgebaut, die Läden setzen Schotten in ihre Türen und bereiten die Pumpen vor, bunte Gummistiefel warten in den vordersten Regalen auf wasserscheue Käufer.
Für Touristen ist das Hochwasser eine der vielen Attraktionen der Serenissima, und zugegebenermaßen ist der Markusplatz als Swimmingpool ein einzigartiges Fotomotiv. Die städtebauliche Substanz wird aber zunehmend angegriffen, viele Experten sprechen nicht nur symbolisch vom Untergang Venedigs. Die Palazzi bröckeln, und genau jenes Meersalz, mit dessen Handel Venedigs Aufstieg vor 1000 Jahren begann, frisst sich nun immer tiefer in die Fundamente und Mauern hinein.
Ein Jahrhunderte alter Rhythmus . . .
Acqua Alta ist kein herkömmliches Hochwasser wie ein übergehender Fluss, es wird durch die Gezeiten verursacht und führt über die Dauer von einigen Stunden zu steigenden Pegelständen, am stärksten spürbar von November bis Februar.
Ebbe und Flut waren den alten Venezianern höchst willkommen, sorgten sie doch dafür, dass Abwässer und Abfälle aus den Kanälen ins offene Meer gespült wurden. Hoher Flutstand bei Voll- oder Neumond, Wasser in die Lagune drückender Südwind sowie starke Niederschläge – auch diese seltene Kombination führte früher maximal zu einer jährlichen Generalreinigung. Venedig lebte im und vom Wasser, und das nicht schlecht.
. . . gerät ausser Kontrolle
Erst in den letzten Jahrzehnten geriet der natürliche Rhythmus durcheinander. Drei Ursachen gelten als wissenschaftlich belegt:
– Die globale Klimaerwärmung sorgt für einen steigenden Meeresspiegel, ca. 25 cm in den letzten 100 Jahren.
– Das Absinken des Grundwasserspiegels wird durch den städtischen Eigenbedarf, vor allem aber durch den enormen Süßwasserverbrauch der Industriekomplexe in Marghera und Mestre verursacht. Dadurch ist Venedig im letzten Jahrhundert gut 25 cm gesunken.
– Die Erweiterung und Vertiefung der Hafeneinfahrten sowie der stark zunehmende Schiffsverkehr führen zu starken Strömungen, die riesige Mengen Sand und Geröll ins Meer spülen. Der Anblick riesiger Wolkenkratzerschiffe vor dem Dogenpalast mag spektakulär sein, der Ausbau Venedigs zum Kreuzfahrthafen führt aber zu unkalkulierbaren Risiken.
Die Folgen
Seit dem Jahrtausendhochwasser von 1961 (Pegelstand 194 cm – zum Vergleich die Lage der Markuskirche: 40 cm über dem Meeresspiegel) hat sich die Häufigkeit der Hochwasser verfünffacht. 2010 ertönten die Sirenen schon 18 Mal, Klimaforscher rechnen für das Jahr 2050 mit bis zu 100 Hochwasserereignissen pro Jahr.
Venedigs Marmor löst sich langsam auf, und schädlich ist nicht nur das Salz. Kein Venezianer wird barfuß im Hochwasser unterwegs sein, er weiss nur zu gut, was an Schmutzstoffen in der trüben Brühe unterwegs ist. Die städtische Kanalisation wird zwar ausgebaut und verbessert, reicht aber für die Einwohner und mehr als 100.000 Touristen pro Tag nicht aus.
Auch der stark zunehmende Verkehr auf Venedigs Kanälen gefährdet die Fundamente. Die „Rush-Hour“ am Canale Grande ist zwar spektakulär, jedoch beschleunigt der starke Wellengang den Zerfall, trotz aller Geschwindigkeitsbegrenzungen für Motorboote.
Projekt MOSE
Mit drei riesigen Fluttoren (30x20 m) an den Einfahrten in die Lagune soll das Projekt MOSE (Modulo Sperimentale Elettromeccanico) der Hochwasserplage ein Ende bereiten. Riesige Stahlkästen werden am Meeresboden befestigt, bei Gefahr werden sie mit Luft gefüllt, schwimmen auf und blockieren den Wasserdurchlass. Das nördliche Tor ist fast fertig gebaut, das gesamte System sollte bis 2016 in Betrieb gehen. Aber nun verstärkt sich der lokale Widerstand gegen das Prestige-Projekt der römischen Regierung, der seit Planungsbeginn 2003 nie abschwoll. Der im April 2013 neugewählte venezianische Bürgermeister Massimo Cacciari fordert vehement einen sofortigen Baustopp. Zweifel an der Finanzierbarkeit (Kostensteigerung um das Doppelte auf 7 Mrd. Euro) und massive Umweltbedenken stellen MOSE zunehmend in Frage. Neben dem finanziellen Desaster lautet das Hauptargument, dass aufgrund der steigenden Hochwasserfrequenz die Dämme immer häufiger und länger geschlossen werden müssen. Das gefährdet einerseits das ökologische Gefüge der gesamten Lagunenlandschaft durch fehlenden Wasseraustausch, andererseits wäre auch der Schiffsverkehr zu den Häfen stark eingeschränkt und kaum mehr planbar.
Nebenbei wurden im Juli 2013 Spitzenmanager des Baukonsortiums wegen Korruption verhaftet – die Zukunft des Projekt MOSE steht mehr denn je in den Sternen.
Unbestritten ist der dringende Handlungsbedarf, egal in welche Richtung. Und generell wird Venedig sich auch die Frage nach den Grenzen des Tourismuswachstums stellen müssen. Über 30 Millionen Touristen besuchen jährlich die nicht einmal 60.000 Einwohner der Stadt, und wegen der stark steigenden Immobilienpreise werden noch viele Venezianer auf das Festland übersiedeln müssen. Manche Beobachter prophezeihen schon ein „Veniceland“ – die Serenissima als kostenpflichtiger Vergnügungspark mit kostümiertem Personal . . .
Stand 2025
Obiger Artikel wurde 2014 verfasst. Kurz danach wurde die Baustelle wegen der Korruptionsaffäre für fünf Jahre stillgelegt. Inzwischen ist das Projekt MOSE in Betrieb und hat Venedig schon vor einigen Überflutungen bewahrt. Trotzdem ist es immer noch umstritten. Neben den jährlichen Betriebskosten von ca. 100 Mio. Euro und den oben erwähnten Bedenken stellt sich die Frage, wie lange MOSE noch dem wegen des Klimawandels steigenden Meeresspiegel trotzen kann . . .