Der Karneval – ein Schau-Spiel
Was bewegt Menschen aus der ganzen Welt, im Winter für einige Tage nach Venedig zu reisen, nach täglich stundenlangem Schminken und Ankleiden sich dort dem oft nasskalten Wetter und den drängenden Massen auszusetzen, überhöhte Preise für Quartier und Verpflegung zu akzeptieren, dies im Wissen, dass die in monatelanger Heimarbeit aufwändig hergestellten Kostüme am Ende des Karnevals zumindest reparaturbedürftig sind und im nächsten Jahr möglichst noch prächtigeren Werken weichen müssen?
Die Geschichte der Maske ist lang. Sie beginnt in der Steinzeit, als Larven der rituellen Beschwörung von Göttern und Geistern dienten. Sie erlebt einen ersten Höhepunkt im griechischen Theater und ihre stärkste Ausprägung im venezianischen Karneval des 17. und 18. Jahrhunderts. Es war die Zeit des venezianischen Niedergangs, die riesigen Vermögen der Kaufleute wurden nicht mehr investiert, sondern im Karneval verprasst. Pest und Türkengefahr wurden so verdrängt, dem Druck der berüchtigten Staatsinquisition konnte hinter der Maske entronnen werden. Die unverrückbaren Gesellschaftsbarrieren des alten Venedig lösten sich auf, der Karneval machte alle gleich – Arm und Reich, Jung und Alt, Leibeigene und Nobili, alle Maskierten grüßten sich mit der anonymen Anrede “Sior Maschera”. Gefeiert wurde rund ums Jahr, 1750, in einer Zeit, in der die meisten Menschen kaum einmal im Leben ihr Dorf verließen, zählte Venedig über 30.000 Touristen, die sich in den Straßen und Palästen der Stadt vergnügten. 1797 wurde dem bunten Treiben und der Freien Seerepublik Venedig durch Napoleon ein abruptes Ende bereitet. Erst 1979 erwachte der Karneval wieder, aber er hat sich seiner Zeit angepaßt. Er ist zum Schau-Spiel geworden und hier beantwortet sich die eingangs gestellte Frage.
In einer Zeit, in der der Einzelne immer mehr in der Menge unter zu gehen droht, stellt sich der Carnevale di Venezia als Möglichkeit dar, aus der Masse herauszutreten, inmitten einer einzigartigen Umgebung seine Zuschauer zum Staunen zu bringen. Die fantasievollen, prächtigen Kreationen der Maskierten verschmelzen mit der morbid-melancholischen Kulisse Venedigs zu einem wundervollen Gesamtkunstwerk, fern jeden Alltags.
Jeder Maskenträger treibt sein Spiel, mit dem Publikum, mit sich selbst, in der Rolle, die er ausgewählt hat. Der Bankbeamte wird zum glitzernden Edelmann, die Sekretärin zur diademgekrönten Principessa, und sie identifizieren sich mit ihrer Rolle, nicht nur durch Aussehen, auch in Bewegung, Gestik und Ausstrahlung. Die Lust an der Verwandlung kann zur Sucht werden, viele der fantastischen Masken kommen Jahr für Jahr wieder in die Serenissima, mit neuen Kostümen, immer noch prächtiger . . . zum Schauen und Spielen – ein Schau-Spiel!
Und über allem könnte ein Zitat von William Shakespeare stehen:
“Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Männer und Frauen nur Spieler…”