Il Carnevale di Venezia
"Vom Karneval in Venedig ist überall die Rede. Die größte Zerstreuung bietet zu dieser Zeit hier die Maskierung, wie übrigens auch zu anderen Festen. Die Venezianer – von Natur aus festlich gestimmt – lieben es, sich in die Massen und Vergnügungen derartiger Anlässe zu stürzen und dabei ihre Identität hinter Vermummungen zu verbergen. In der Tat sind sie ja vor die Notwendigkeit gestellt, Zerstreuungen ausfindig zu machen, die der Natur ihres Wohnortes entsprechen und sie für die entgangenen Vergnügungen der Landbewohner entschädigen. Diese Verkleidungen eröffnen jede Gelegenheit für eine Unmenge an Liebesabenteuern, denn die Amouren von Venedig sind intrigenreicher als in irgend einem anderen Land.“ Joseph Addison, englischer Reisender, Anfang 18. Jhdt.
Der venezianische Karneval mit seinen in den antiken römischen Saturnalien liegenden Ursprüngen war schon in seinen Anfängen über Italien hinaus bekannt. In seinen Anfängen dominierten weniger Raffinesse und Vielfalt der Kostüme, sondern vielmehr leibliche Genüsse. In Fell gehüllte und mit Zweigen geschmückte Männer zogen mit Saiteninstrumenten durch die Gassen. „Trinkt, eßt, guten Käse, gutes Fleisch, gute Nudeln, guten Kapaun, trinkt und eßt, bis es nicht mehr geht!“
Selbst als sich im Mittelalter neben der erbitterten Gegnerschaft der Kirche auch die staatliche Obrigkeit gegen das Tragen von Masken und das bunte Treiben wandte, nahm der Karneval immer größere Ausmaße an. Die Zeit des Maskentragens begann schon im Oktober, dauerte dann, nur kurz durch das Weihnachtsfest unterbrochen, bis zum Aschermittwoch. Aber auch während des restlichen Jahres waren Masken gegenwärtig, bei Festen, Theaterbesuchen, Amtseinführungen oder Staatsbesuchen. Während der Machtverlust der Seerepublik nach außen durch eine immer absolutere Innenpolitik kompensiert wurde, mit der berüchtigten Staatsinquisition als gefürchtetem Instrument, entwickelte sich der Karneval zu einem Ventil für die Venezianer. Verletzungen gültiger Zivilisationsnormen, Aggressivität und enthemmte Sexualität nahmen zu, aber auch die Masken und Verkleidungen wurden immer phantasievoller. Bizarre Himmels- und Meeresgötter, prächtig geschmückt, wetteiferten mit der Pracht der Palazzi, auch die Kleidung der in Venedig wohnenden, mit ihm Handel treibenden oder von ihm kolonisierten Völker wurde als Kostüm verwendet. Am Markusplatz traf man Türken, Kreter, Armenier, Nubier, Deutsche, persische Seidenhändler, arabische Karawanenführer, holländische Seeleute und Fischer aus Piran, die sich an Trapezkünstlern, Musikanten, Gauklern, Wahrsagerinnen, exotischen Tieren usw. ergötzten.
Im 17. Jhdt. erreichte der Karneval seinen Höhepunkt. Der wirtschaftliche, politische und militärische Niedergang der Lagunenstadt ließ sich im Fest, hinter der Maske am besten vergessen. Die riesigen Vermögen der venezianiscnen Kaufmannsadeligen wurden nicht mehr investiert, sondern mit Feuerwerken, Luxuskulissen, Bällen und Festdekorationen verprasst. Die ganze Gesellschaft verschwand immer mehr hinter der Maske des Karnevals. Der einzige florierende Wirtschaftszweig war der Luxustourismus. Maske, Liebe und Spiel lockten 1701 nicht weniger als 30.000 Fremde nach Venedig. Der Karneval wurde in allen Gesellschaftsschichten gefeiert, sogar die Gefangenen in den Bleikammern erhielten Sonderrationen Reis und Wein. Zehntausende Menschen verfolgten an den Piazzas der Lagunenstadt die verschiedenen Spiele und Umzüge, deren Ursprünge in der Entstehunggeschichte Venedigs lagen. Im „Forze d’Ercole“ gewann die höchste, schönste und am schnellsten aufgebaute menschliche Figurengruppe. Der „Vol del Turco“, der Flug des Türken, erinnerte an die Unterwerfung Friauls im 12. Jhdt. Der „Giovedi Grasso“ endete mit einem prächtigen Feuerwerk auf Holztürmen, Erinnerung an die eroberten Kastelle von Friaul. Am „Martedi Grasso“, dem Karnevalsdienstag, schlugen die Wogen des Karnevals ein letztes Mal hoch. Das war der Tag des Konfettis und der extremen Maskierung. Noch einmal traf sich auf der Piazza das ganze maskierte Venedig. Doch die Piazzetta blieb leer, denn hier standen bereits die Aufbauten für die hölzerne Predigtkanzel, von der aus während der Fastenzeit der Klerus zur Buße aufrief. Um Mitternacht schlug dann mit schwerem Klang vom Campanile die „Marangona“, und die Fastenglocke von San Francesco della Vigna rief das Volk zur Absage an die Freuden des Fleisches und Karnevals.
Das vorläufige Ende kam 1797. Napoleon Bonaparte setzte den letzten Dogen ab, der Große Rat löste sich auf. Die „Serenissima Repubblica“ hatte aufgehört zu existieren, auch der Karneval war damit zu Ende. Was blieb, waren einige private Bälle, Maskenumzüge, übriggebliebene Schaustücke, maskierter, lärmender Fasching. „In den Ecken der Cafes sieht man einige Gestalten in moderner, aber völlig abgetragener Kleidung, durch düstere und verfallene Züge von den anderen unterschieden. Es sind Nobili, die größten Namen des goldenen Buches, völlig verarmt, zu hochmüthig, um zu arbeiten, kaum stolz genug um nicht zu betteln; der Kaiser giebt ihnen eine Unterstützung (täglich zwei Zwanziger), um ihrer Namen willen.“ So schreibt ein Besucher des Karnevals 1830 über die ehemaligen Herren Venedigs unter den Österreichern. Die Serenissima war tief in der Fastenzeit versunken.
Erst vor 1979 ist sie wieder erwacht, die Maskenzeit. Die moderne Signoria der Lagunenstadt – der Massentourismus – hat sie wieder erweckt. Und als sei nichts gewesen, steht die Stadt in alten Masken und Kostümen wieder vor uns. Obwohl der Karneval jedes Jahr unter einem anderem Motto steht, erhält er seine einzigartige Atmosphäre durch die Ideen und das Treiben unzähliger Einzelinitiativen. Die schmalen Gassen Venedigs machen großangelegte Umzüge unmöglich, dies führt zu einem engen, die Unterschiede verwischenden Kontakt zwischen Maskierten und Zuschauern – zum Unterschied zu den Umzügen von Rio, Nizza und Viareggio, dem „Fat Tuesday“ in New Orleans, der Basler Fasnacht oder auch dem Imster Schemenlaufen, die alle den Zuschauer auf Distanz halten. Leider gibt es auch in Venedig derartige Tendenzen, wie die zunehmende Zahl der Gitter und Laufstege am Markusplatz beweist. Auch die wachsende Überfremdung durch mehr oder weniger alkoholisierte, knallkörperwerfende Touristen gefährdet den Karneval. Der zunehmende Trubel, die verstopften Gassen (die am Höhepunkt des Karnevals zu Einbahnen erklärt werden müssen, um den Fußgängerverkehr nicht völlig stocken zu lassen), treiben viele Venezianer zur Flucht in den Winterurlaub oder aufs Festland. Diese Lücken aber werden immer mehr durch Besucher aus der ganzen Welt gefüllt. Franzosen in Rokoko-Kostümen, Clowns aus der Schweiz, Deutsche in phantasievollen Kleidern, Italiener aus benachbarten Provinzen mit in monatelanger Arbeit angefertigten Prachtgewändern und sorgfältig aufgetragener Schminke treffen sich in der Serenissima, und dies läßt auf ein langes und prächtiges Leben des „Carnevale di Venezia“ hoffen.
Post Scriptum: Dieser Text zierte die Rückseite meines ersten Venedig-Kalenders 1996.