Il Luce di Venezia
,,Morgenstund hat Gold im Mund"
Venezia, Hotel Noemi, Montag 6 Uhr früh – warum ist der Wecker so laut? Der gestrige Abend ist noch nicht weit – aber dann ein Blick durchs Fenster: Noch ziemlich dunkel, aber trocken. Die Kameratasche mit Filmen munitioniert und raus aus dem Zimmer. Der Nachtportier blickt ein wenig irritiert, hinaus auf die fast leere Calle. Nur ein einsamer Brotlieferant wuchtet seine Karre über eine der vielen Brücken. Die eiskalte Luft muntert schnell auf und der Blick auf den wolkenlosen Himmel erzeugt ein leises Kribbeln im Bauch. Am Markusplatz angekommen, ein kurzes Innehalten, den seltenen Blick auf eine unbevölkerte Piazza geniessend. Weiter Richtung Bacino, am Campanile vorbei zur Piazzetta, nun nicht mehr allein - einzelne Masken und Fotografen streben dem selben Ziel zu. Der Schritt wird langsamer, das Ziel ist erreicht - der Riva di Schiavioni vor dem Markusplatz. Man begrüsst sich, die Fotoausrüstung wird in Stellung gebracht, manch frierender Fotograf beneidet die Masken um deren dicke Gewänder und Handschuhe.
Einige Unentwegte fotografieren ihre Motive vor dämmrigem Hintergrund, aber die meisten blicken gebannt gen Osten. Schnell wird es heller, die ersten Wolkenstreifen am Rand des Horizonts verfärben sich. Innerhalb von nur wenigen Minuten lassen sich sämtliche Variationen von rosa, violett und rot beobachten. Und dann erscheint über der Adria der Rand einer grossen, gleissenden Scheibe, taucht die märchenhafte Umgebung in ein zauberhaften, wunderschönes Licht, als hätte ein Theaterrequisiteur sämtliche Lampen auf einmal eingeschalten. Aber nur kurz währt das Staunen, denn nicht nur die Marmorfassaden leuchten im Sonnenlicht, auch die Masken erstrahlen im morgendlichen Lichtzauber. Und dies vor dem prächtigen Hintergrund der menschenleeren Riva und Säulenreihen.
Nach einer knappen Stunde und unzähligen Fotos beginnt sich die Szenerie langsam zu füllen, Venezianer bahnen sich ihren Weg zur Arbeit, erste ankommende Touristen können ihr Glück kaum fassen, zu so früher Stunde so viele Masken so ungestört fotografieren zu können. Das Sonnenlicht wird greller und bringt nun behagliche Wärme in die kalten Glieder. Noch ein kleines Schwätzchen hier, eine Verabredung zum Abendessen dort, dann die Rückkehr über den sich allmählich füllenden Markusplatz, vorbei an den ersten Trucco-Malern, die sich dort gerade die besten Plätze sichern. In der Calle dei Fabbri lockt Kaffeegeruch aus der Lieblingsbar, rasch hinein, ein Cappuccino, begleitet von einigen leckeren Fritelle: Bon di, Venezia - der Tag hat gut begonnen!
Sonnenaufgang in Venedig
Erwachende Glocken. - In allen Kanälen
flackt erst ein Schimmer, noch zitternd und matt,
und aus dem träumenden Dunkel schälen
sich schleichend die Linien der ewigen Stadt.
Sanft füllt sich der Himmel mit Farben und Klängen,
fernsilbern sind die Lagunen erhellt. -
Die Glöckner läuten mit brennenden Strängen,
als rissen sie selbst den Tag in die Welt.
Und nun das erste flutende Dämmern!
Wie Flaum von schwebenden Wolken rollt,
spannt sich von Turm zu Türmen das Hämmern
der Glocken, ein Netz von bebendem Gold.
Und schneller und heller. Ganz ungeheuer
Bläht sich das Dämmern. - Da bauscht es und birst,
Und Sonne stürzt wie fressendes Feuer
Gierig sich weiter von First zu First.
Der Morgen taut nieder in goldenen Flocken,
Und alle Dächer sind Glorie und Glast.
Und nun erst halten die ruhlosen Glocken
Auf ihren strahlenden Türmen Rast.
Stefan Zweig