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Das venezianische Labyrinth

     . . . von Calle, Ramo, Fondamenta, Salizzada, Campiello und anderen Möglichkeiten, sich zu verirren

Venedig besitzt neben etwa 175 Kanälen rund 3000 Straßen und Gassen, in denen knapp 30.000 Hausnummern gefunden werden können. Leichter gesagt als getan, denn schon Goethe berichtet in der „Italienischen Reise“ von seinem Venedig-Aufenthalt: „Den Plan in der Hand suchte ich mich durch die wunderlichsten Irrgänge bis zur Kirche der Mendicanti zu finden.“

Diesem Vorbild folgen bis heute Millionen von Touristen, aber auch viele Bewohner Venedigs sind abseits ihrer engeren Wohnumgebung eher mit der Methode „try and error“ als gezielt unterwegs.

Das venezianische Labyrinth ist nicht auflösbar, aber es lässt sich zumindest teilweise erklären, und dies soll in den folgenden Zeilen versucht werden.

Grundsätzlich hilfreich ist die Kenntnis der verschiedenen Straßenarten Venedigs. Eine Ruga ist eine Hauptstraße, finden sich dort viele Geschäfte, heißt sie Merceria oder Salizada. Engere Straßen werden Calle genannt, entlang der Kanäle wird die Bezeichnung Fondamenta verwendet. Straßen auf zugeschütteten Kanälen heißen Rio Terra, Ramo ist eine Seitengasse, die meist, aber nicht zwangsläufig zu einem Kanal führt. 

Eine Calle del Traghetto hingegen führt immer zu einem Kanal, unglücklicherweise aber nur selten zu einem Traghetto – nur wenige dieser Fährverbindungen über den Canal Grande sind noch in Betrieb.

Eine sehr schmale Gasse heißt Stretto und ein Durchgang unter einem Haus wird Sotoportego genannt. Dieser führt wiederum entweder zu einem Corte (Innenhof), einem Campiello (kleiner von Häusern umgebener Platz) oder einem Campo (größerer Platz, meist vor einer Kirche). Der Begriff Piazza ist dem Markusplatz vorbehalten, der südlich von der Piazetta San Marco und nördlich des Markusdoms von der Piazetta dei Leoncini begrenzt wird.

Der vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch eine Piazzale (beim Busbahnhof) sowie eine Strada Nova gibt. Diese führt als Hauptdurchzugsstraße vom Bahnhof Richtung Rialto und war früher ein Kanal. Eine für Italien sonst typische Via gibt es nur dreimal (25 Aprile, Vittorio Emanuele und Garibaldi).

Übersichtlicher sind die Bezeichnungen der Wasserstraßen, diese heissen Canale oder Rio, nur der Hauptverkehrsader der Stadt bleibt der Name Canal Grande vorbehalten. Dass die Serenissima stets dem Wasser zugewandt war, sieht man an den prächtigen Fassaden und Eingangsportalen entlang der Kanäle, währenddessen die Hintereingänge der Paläste straßenseits meist unscheinbar sind.

Soweit eine Übersicht über die Namensbezeichnungen der venezianischen Verkehrswege – zwar eigenartig, aber nachvollziehbar. Kompliziert wird es wegen des Umstandes, dass Straßen- und Platznamen in Venedig mehrfach vorkommen, z.B. gibt es je eine Calle Larga in den Stadtteilen Santa Croce, Cannaregio und San Polo, im Sestiere Castello sogar sogar zwei dieses Namens. Auch die Bezeichnungen von Palästen sind nicht einfach zuordenbar: So gibt es elf Palazzi Giustinian, allein am Canal Grande befinden sich drei Palazzi Mocenigo.

Wenig hilfreich ist auch der Brauch, Straßen und Platzbezeichnungen in der Mundart Venexian anzuschreiben. Die Suche nach der Piazza Sant‘Angelo führt, falls sie erfolgreich ist, zum Straßenschild mit der Aufschrift San Anzolo. Und wer die Kirche SS Giovanni e Paolo besichtigen will, sollte nicht vergessen, dass diese Kirche von den Venezianern SS Zanipolo genannt wird.

Maria-Theresia und die Seelenkonskription

Die Ursache für die verwirrende venezianische Hausnummerierung findet sich im 18. Jahrhundert. Im Zuge der Aufklärung wollte man klare Strukturen als Basis für eine neue Sicht auf die Welt schaffen. Kaiserin Maria-Theresia verband das Moderne mit dem Nützlichen, liess ihr Volk zählen und Häuser mit Nummern versehen. Diese sogenannte Seelenkonskription brachte mehr Effizienz für die Steuereinhebung und trug dazu bei, junge wehrfähige Männer möglichst lückenlos für die Kriege der Habsburger zu rekrutieren.

Während der österreichischen Herrschaft wurde dieses System auch in Venedig eingeführt, bis 1841 wurden sämtliche Sestiere durchnummeriert. Dieses Zahlenchaos überlebte den Abzug der Habsburger und sorgt bis heute für Verwirrung.

Die Krönung des venezianischen Labyrinths ist schlussendlich die Hausnummerierung. Die sechs Sestien genannten Stadtteile sind von 1 bis ca. 6000 durchnummeriert, aber nicht straßenweise, sondern kunterbunt verteilt, nach einem schwer durchschaubaren, eigentlich nicht vorhandenen System. So kann es passieren, dass jemand vor dem Haus Cannaregio 3245 steht, und gegenüber befindet sich die Nummer 5312. Manche Straßen sind links aufsteigend und rechts absteigend nummeriert und nicht selten befinden sich auf einem Haus zwei oder mehr Nummernschilder.

Spätestens dann kehrt man zum System „try and error“ zurück und reiht sich in die Touristenscharen ein, die verlegen lachend mit einem Straßenplan in der Hand durch die Stadt irren. Wenig Trost gibt die Tatsache, dass man sich nur in halb Venedig verirren kann, da ja der Canal Grande die Stadt in zwei Hälften teilt . . .

Statt zu fluchen oder ein Stoßgebet in den Himmel zu schicken, sollte man das venezianische Labyrinth ergeben hinnehmen, ja sogar als Chance zu begreifen, mehr von Venedig zu entdecken. Sich treiben lassen, die Kunst des Flanierens wieder zu entdecken – Venedig bietet unzählige versteckte Schätze. Sich Zeit nehmen zum Schauen, Hören und Riechen, das eröffnet Möglichkeiten, tief in die Lagunenstadt einzutauchen, die aus weit mehr besteht als Markusplatz, Basilika und Dogenpalast.

Die einzige Gefahr beim Stadtspaziergang ist, dass er länger dauert als geplant, jedoch gibt es genügend Bars und Bacaris, in denen man bei einem Ombra und Cicchettis Erholung und neue Kraft findet.

Wer die Piazzale Roma mit ihren Autoparkhäusern verlässt und mit dem Vaporetto oder zu Fuß in die Stadt eintaucht, spürt, dass die Zeit langsamer wird, und diese Entschleunigung verstärkt sich, je länger man in der Stadt bleibt.

Spätestens beim zweiten oder dritten Spaziergang verändert sich das Zeitgefühl. Alles wird gemächlicher, Stress fällt ab, man geniesst den Tag. Es entsteht das Gefühl, Venedig wäre eine Insel, die der weltweit zunehmenden Hektik und Beschleunigung widersteht. Das hat sicherlich auch mit der Abwesenheit von Autos zu tun, mit dem mühsamen Treppen- und Brückensteigen, den vielen notwendigen Umwegen – aber vor allem mit der einzigartigen Aura der Serenissima und ihrem Licht, das die schäbigsten Fassaden noch golden aufleuchten lässt. Carpe diem!

„Für Venedig-Reisende empfiehlt sich eine volle Börse und eine leere Blase!“

Wer wollte dem widersprechen? Für den Toilettengang in Venedig ausserhalb der Unterkunft bietet sich den Besuchern wenig an: Nur in Museen und Ausstellungen ist er kostenlos, in Bars und Restaurants wird eine Konsumation verlangt und die öffentlichen Toiletten sind mehr als rar. Ganze zehn Örtlichkeiten sind über Venedig verstreut, drei davon im Winter geschlossen. Die Benützung ist nur von 7.30 bis ca. 20 Uhr möglich und kostet 1,50 Euro, angeblich gibt es sogar Tageskarten über Online-Buchung – nähere Details finden sich unter www.gruppoveritas.it.

Dass dieses Angebot an Toiletten angesichts von bis zu 100.000 Touristen pro Tag nicht ausreichend ist, kann niemand bestreiten. Das führt dazu, dass vor allem nächtens dunkle Gassen und Ecken als Nottoilette fungieren müssen, obwohl dies natürlich streng verboten ist. Manch einer oder eine wird dabei mit seltsamen Steingebilden an Hausecken konfrontiert – den sogenannten „Gobbi“. Ein Relikt aus alten toilettlosen Zeiten, in denen man sich nur in Kanäle und Gassen erleichtern konnte. Stark frequentierte Winkel wurden dann mit dem Gobbo geschützt, der den Urin auf den Wildpinkler zurückspritzen liess . . .

In diesen alten Zeiten war es übrigens üblich, bei gesellschaftlichen Anlässen in Gruppen pinkeln zu gehen. Nicht wegen der besseren Kommunikation – wer sich alleine auf die Gasse begab, geriet schnell in den Verdacht, ein Verbrechen begehen zu wollen, oder noch schlimmer, an einer Verschwörung beteiligt zu sein.

Stadtplan von Venedig