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Die Pest in Venedig

Venedig anno 1630 – die Serenissima ist seit über 400 Jahren eine der reichsten und einflussreichsten Großmächte der Welt, aber ihre Macht bröckelt. Die Türken erobern große Teile der venezianischen Inseln und Handelsstützpunkte im östlichen Mittelmeer, dalmatische Piraten kapern immer mehr Kauffahrtsschiffe, vor allem aber spürt Venedig, dass es vom Welthandelsstrom abgeschnitten wird. Die Entdeckungen in der neuen Welt begünstigen die Atlantikmächte, das Mittelmeer ist nicht mehr Nabel der Welt. Die venezianischen Handelsbeziehungen zum Orient sind immer noch lukrativ, aber das Monopol ist gefallen.

Seit 1618 tobt der Dreissigjährige Krieg, in den fast alle europäischen Mächte verwickelt sind, und nun sieht Venedig eine Chance, seinen Landbesitz in Oberitalien, die Terra ferma, zu erweitern. Um das Herzogtum Mantua ist ein Erbfolgestreit zwischen dem mit Spanien verbündeten römisch-deutschen Kaiser Ferdinand und der Serenissima entbrannt.

Venedig rüstet ein für damalige Verhältnisse riesiges Söldnerheer von 14.ooo Soldaten aus, welches aber am 29. Mai 1630 vor Mantua vernichtend geschlagen wird, die Stadt wird von spanischen Truppen eingenommen und gebrandschatzt. Und damit nicht genug – Anfang Juni bringt eine Delegation aus Mantua die Pest nach Venedig. Die Zeichen sind untrüglich, starkes Fieber, Beulen und schwarze Hautflecken kündigen den nahenden Tod an.

Als führende Handels- und Seemacht war Venedig immer schon Europas Einfallstor für Seuchen. Grundsätzlich wäre Venedig für die Pest gut gerüstet, seit der ersten verheerenden Epidemie 1347-1353 wurde ein für damalige Zeiten sehr wirksames Krankheitsmanagement entwickelt. Mehr als 20 kleinere Seuchenzüge der Pest in den vergangenen 300 Jahren wurden mit Quarantäne, Abriegelungen und Isolation der Kranken halbwegs glimpflich überstanden, die wirtschaftlichen Folgen waren überschaubar, der Schaden bald wieder behoben.

Nun aber, im Juni 1630, zögern der Senat und der Rat der Zehn, durch die oberste Gesundheitsbehörde, die Magistratura della Sanità, den Seuchennotstand ausrufen zu lassen. Denn dies würde den „Lock-Down“ bedeuten, eine Art Belagerungszustand, der Handel und Versorgung zum Erliegen bringen und die Erholung der Stadt von der Niederlage im Krieg verhindern würde. 

Gerüchte schwirren durch die Gassen, in den Armenvierteln mit den schäbigen Mietshäusern für Bettler, Brunnenreiniger, Huren und Kastrierer häufen sich die Krankheitsfälle, wer es sich leisten kann, flieht auf das Festland. Erst am 22. Juni erfolgt das erste Pestdekret. Aber dieses verfügt nicht die strenge Pestquarantäne, sondern beinhaltet religiöse Maßnahmen, um Gott milde zu stimmen. Eine Sittenpolizei soll Glücksspiel, Blasphemie und Unzüchtigkeit eindämmen, der Magistrat spendet Geld an Bettler und Notleidende, zahlreiche Prozessionen finden statt, die Menschen drängen sich um die Statuen und Bilder des Pestheiligen San Rocco. Dadurch lässt sich die Seuche aber nicht aufhalten, bis September sterben über 1200 Venezianer.

Erst am 22. Oktober 1630 wird vom Senat ein zweites Dekret erlassen, das endlich strenge Maßnahmen enthält. Alle Kranken werden ins Lazaretto Vecchio verbannt, die Verdachtsfälle zur Quarantäne auf die Insel Vigna Murada, ins Lazaretto Nuovo gebracht, in allen Stadtteilen werden Vorräte für Lebensmittel und Feuerholz angelegt, die Stadt weitgehend abgeriegelt. Auch ein Gelöbnis an die Jungfrau Maria wird geleistet: Im Falle der Errettung vor der Pest soll ein neues Gotteshaus errichtet werden, 50.000 Gulden werden vom Senat für den Bau der zukünftigen „Santa Maria della Salute“ bereitgestellt.

Jedoch, es ist zu spät, das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Allein im November stirbt ein Zehntel der Bevölkerung, in den Massengräbern müssen über 14.000 Leichen bestattet werden. Die öffentliche Ordnung zerbricht, Chaos überall – es muss ein gespenstischer Anblick gewesen sein. Vor den Haustoren liegen die Toten, deren Angehörige werden in ihrem Pesthaus unversorgt isoliert, die Türen mit gekreuzten Balken gesperrt. In den Gassen sieht man Scharen von Totenträgern, dazwischen die Ärzte mit ihren Schnabelmasken, die Massengräber in der Stadt quellen über, unzählige schwarze Totengondeln bringen die Leichen zur Verbrennung ins Lazaretto Vecchio, ebenso die noch lebenden Erkrankten.

 

Das venezianische Gesundheitssystem kollabiert, zu viele Ärzte, Helfer und Totengräber sterben, die Behörden  müssen sich mit Gefängnisinsassen und Sklaven behelfen. Die Preise für Lebensmittel steigen in schwindelerregende Höhen, es kommt zu Plünderungen, Wunderheiler verlangen Wucherpreise für obskure Heilmittel.

Anfang Dezember sinkt die Zahl der Opfer endlich, aber erst im Oktober 1631 erklärt die Magistratura della Sanità das Ende der Seuche. Die fürchterliche Bilanz von 18 Monaten Pest sind 46.536 Tote, fast ein Drittel der Einwohnerschaft. Wirtschaft und Handel liegen darnieder, Venedig wird sich nie mehr wieder ganz erholen. Zwar ist die Serenissima mit ihren vielen Handelsstützpunkten und Landbesitzen immer noch reich und mächtig, aber sie muss in den folgenden Jahren bis zum Untergang 1797 von ihrer Substanz leben. Kulturell folgt noch eine Blütezeit in Malerei, Musik und Theater, aber politisch und wirtschaftlich geht es bergab, Venedig wird zur Bühne für Schaulustige und Vergnügungssüchtige, ein erster Tourismus-Hotspot der Welt.

 

Die eindrücklichste Erinnerung an die Pest von 1630 stellt die Kirche Santa Maria della Salute dar. Venedig erfüllt sein Gelöbnis, wenn auch verspätet. Der Architekt Baldassare Longhena wird mit dem Bau beauftragt, die Kirche soll an der Spitze des Stadtteils Dorsoduro am Eingang des Canal Grande errichtet werden. Die vom Senat bereitgestellten 50.000 Dukaten reichen gerade für die über eine Million Baumstämme, die als Fundament in den sumpfigen Boden gerammt werden. Immer wieder steht die Baustelle wegen Geldmangels still, erst 1687 kann der barocke Prachtbau geweiht werden. Über dem Hauptportal auf der Spitze des Dreieckgiebels steht die triumphierende Jungfrau Maria und blickt über die Stadt.

Seit 1631 findet jedes Jahr am 21. November die Festa della Madonna della Salute statt, eine Gedenkprozession als Dank für die Errettung von der Pest – die wichtigste Veranstaltung der Stadt, an der kaum ein Venezianer fehlen will. Dazu wird eine hölzerne Brücke auf Booten über den Canal Grande errichtet, welche die Punta della Dogana mit der Kirche Santa Maria del Giglio verbindet. Vor der Kirche herrscht Jahrmarkttrubel, innen funkeln unzählige Kerzen rund um den berühmten Fußboden mit den fünf Rosen und der Inschrift „unde origo, inde salus“ – „wo Venedig seinen Ursprung hat, kommt Gesundheit und Rettung“.

Das Lazzaretto Vecchio

wurde 1423 als weltweit erstes Pesthospital auf einer Insel nahe des Lido eingerichtet. Alle Pestkranken wurden in diesen großen Gebäudekomplex mit über 100 Räumen gebracht und dort, so gut es ging, verpflegt und versorgt. Trotzdem überlebten nur die wenigsten, die Venezianern nannten den Ort „Insel der Verdammten“. Es gibt kaum einen Platz auf Erden, auf den das Zitat aus Dante‘s Göttlicher Komödie mehr zutrifft: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“

Bei Ausgrabungen in den letzten Jahren wurde in den Massengräbern ein makabres Detail entdeckt. Im Schädel einer um 1600 Verstorbenen steckte ein Backstein. Archäologen vermuten, dass der Totengräber bei einer Graböffnung Blut am Leichentuch bemerkte und einen Fall von Vampirismus befürchtete. Um den vermeintlichen Vampir verhungern zu lassen, steckte er ihm den Stein zwischen die Zähne…

Das Lazzaretto Nuovo

befindet sich auf einer kleinen Insel nahe San Erasmo und wurde 1468 als Quarantänestation eingerichtet. Alle pestverdächtigen Bewohner der Stadt wurden hier für 40 Tage isoliert sowie auch Mannschaften und Ladung sämtlicher einlaufenden Schiffe unter Seuchenverdacht. Alle Personen mussten ihre Kleider abgeben, wurden mit Essig gewaschen und dann in Quarantäne gebracht, sämtliche Handelswaren wurden in der Sonne gelüftet, anschliessend mit Rosmarin und Wacholderbeeren geräuchert oder mit Essigbädern oder kochenem Wasser gereinigt. Falsche Angaben oder vorzeitiges Verlassen der Insel bestrafte man schwer, in Seuchenzeiten drohte der Galgen.

Bei der Pest 1630 reichten die Kapazitäten der beiden Inseln nicht mehr aus – tausende Kranke und Internierte wurden auf Galeeren und Flößen untergebracht, die vor den Inseln ankerten.

Der Pestdoktor

 

„Nehmt den Kot eines zehn bis zwölf Jahre alten Jungen, nicht älter; lasst ihn trocknen und stellt ein Pulver daraus her, das ihr dann so anwendet: Nicht mehr als zwei Löffel davon in ein Glas Schnaps geben und vermischen . . .“ 

Mit Rezepten wie diesem versuchte sich die verzweifelte Bevölkerung gegen die Pestepidemie zu wehren. Den Ursprung der Seuche sah man in „Miasmen“, vom Boden aufsteigender verdorbener Luft. Dagegen sollten Räucherungen mittels Weihrauch, Myrrhe oder Wacholder helfen. Pestkranke wurden mit Aderlässen oder Brechmitteln traktiert um das vermutete Gift aus dem Körper zu schaffen, trotzdem oder eher deswegen starben die meisten binnen 72 Stunden. Einzig das Aufschneiden der eitergefüllten Pestbeulen versprach Hoffnung, zumindest bei Patienten mit guter Konstitution. Jedoch schreckte man vor solchen Eingriffen zurück, und bald gab es auch kaum mehr medizinisches Personal dafür.

Erst 1894 entdeckte der Schweizer Arzt Alexandre Yersin, dass die Pestbakterien durch Ratten auf Flöhe und weiter auf Menschen übertragen werden. Durch Antibiotika ist die Krankheit heute gut behandelbar und bis auf kleinere Ausbrüche, zuletzt 2017 auf Madagaskar, fast ausgestorben.